Das Jahrbuch der Alpenvereine 2022: Ortler / Freiheit
Das Jahrbuch der Alpenvereine aus Deutschland, Österreich und Südtirol setzt in diesem Jahr noch stärker als sonst auf aktuelle Themen, ist mein Eindruck. Zumindest interpretiere ich die Wahl des Begriffs „Freiheit“ als zweitem Schwerpunkt, neben dem Ortler, so. Wie in jedem Jahr ist auch das Alpenvereinsjahrbuch BERG 2022* wieder ein echtes Schmökerbuch, das man zunächst durchblättert und vielleicht bei einem Artikel hängenbleibt.
Und dann im gleichen Kapitel weiterliest. Und sich dann wieder ein ganz anderes Thema vornimmt und sich festliest.
Denn von Expeditionen in den Alpen und der Antarktis bis theoretischen Überlegungen zur Freiheit und künstlicher Intelligenz, von ökologischen Themen bis zu neuen Erkenntnissen der Bergrettung spannt sich der Bogen auch in diesem Jahr. Dabei werden sowohl hochaktuelle Themen behandelt als auch ein, nicht immer nostalgischer, Blick zurück in vergangene Jahrzehnte oder sogar ins vorletzte Jahrhundert geworfen.
Aber zuerst geht es ganz nach oben: Die BergWelten widmet sich dem Ortler. Höher hinaus als auf den 3905 Meter hohen Berg in Südtirol geht es nicht im Bereich der drei Alpenvereine. Wie üblich wird der Berg thematisch vielfältig angegangen: Nicht nur mit Artikeln und Interviews zu Bergsteigen und Skitouren. In den Bergen Südtirols zeigt sich auch der Klimawandel, der auch direkten Einfluß auf die Routen der Berggeher nimmt. Weiter werden der Nationalpark Stilfser Joch und das Dorf Stilfs vorgestellt.
Der BergFokus befasst sich mit einem Begriff, der untrennbar mit dem Bergsteigen verbunden ist, aber in den letzten zwei Corona-Jahren besondere Aktualität bekommen hat: „Freiheit“. Was bedeutet Freiheit in den Bergen?
Über die große Freiheit zweier Freunde, die zu Beginn der sechziger Jahre mit dem Motorrad in den Alpen zum Bergsteigen gefahren sind: Zwei Männer, ein Motorrad, keine Verpflichtungen.
Was bedeutete Freiheit für Bergsteiger, die nicht in die Alpen konnten, weil sie in der DDR lebten? Ihre Sprüche in den Gipfelbüchern des Elbsandsteingebirges sind ein Zeitdokument über das Vermissen der Freiheit zu Reisen, aber auch über die kleine Freiheit auf den Bergen vor denen, die unten das Sagen haben.
Und was verbinden Bergmenschen mit dem Begriff Freiheit? „Über den Wolken“, „Der vollkommene Fokus“ oder auch „Frei sein von und frei sein für“. Zwölf Statements von Menschen, die in den Bergen leben, Sport treiben, als Bergführer unterwegs sind oder als Journalisten über die Berge schreiben.
Eine Antwort, die nicht nur in den Bergen sehr aktuell ist, lautet: „Freiheit bedeutet, Verantwortung zu übernehmen“. Wie oft möchte man sie in diesen Zeiten Menschen entgegenhalten, die ihre rein egoistische Interpretation von Freiheit herausschreien?
Klimawandel und Naturschutz spiegeln sich gleich in mehreren Artikeln wieder. Beim Ortler genauso wie in der, schon recht langen, Übersicht aufgelassener Skigebiete im Kapitel BergKultur.
Oder bei der Besucherlenkung im Naturpark Ammergauer Alpen, gleich vor den Toren der Millionenstadt München. Wie kommt man überhaupt zum Berg? Einige Gedanken zur Mobilität im Kapitel BergSteigen, das sich auch mit dem Alpinismus in Pandemie-Zeiten befasst.
BergMenschen portraitiert unter anderem den Zillertaler Bergsteiger Peter Habeler und die Neuseeländische Kletterin Mayan Smith-Gobat. Ein Blick zurück stellt die sächsischen Schwestern Margarete und Elsbeth Große, die Ende den 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Sachsen und den Alpen nicht nur kletterten, sondern auch Ballonfahrten über die Alpengipfel unternahmen.
Unter dem Titel „Am Seil. Eine Heldengeschichte“ schreibt Erich Hackl über den Kunsthandwerker und Bergsteiger Reinhold Duschka. Dieser versteckte während des zweiten Weltkriegs in Wien eine jüdische Frau mit ihrer Tochter über vier Jahre und bewahrt sie so vor Deportation und Tod. Hierfür wurde er als „Gerechter unter den Völkern“ geehrt.
Im BergWissen geht es noch einmal um die Zillertaler Alpen, die eine wahre Schatzkammer für Mineralienfreunde sind. Hier gibt es weit mehr als nur das bekannte Bergkristall. Den Bergen als komplexen Ökosystemen widmen sich mehrere Artikel. Warum reichern sich in schmelzenden Gletschern Schwermetalle an? In einem weiteren Beitrag wird der Nationalpark Kalkalpen mit all seinen Tier- und Pflanzenarten, Pilzen und Flechten wird vorgestellt.
Die letzten zwei Artikel des Buches zeigen die Darstellung der Bergwelt und des Bergsports zu ganz unterschiedlichen Zeiten. „Und hier bin ich!“ widmet sich der Aufmerksamkeitsökonomie im Web, mit einigen Beispielen, besonders von Instagram, die wir alle so oder so ähnlich kennen dürften. Mit dem durchaus provokanten Untertitel: Sozial, asozial, alpin.
Ganz anders die „Alpinen Seilschaften“ über eine Ausstellung in der Landesgalerie Niederösterreich. Hier geht es um die Darstellung der Berge und des Bergsports in Malerei und Fotografie zu Beginn des letzten Jahrhunderts.
Wie immer ist das nur ein Ausschnitt aus den vielfältigen Themen des Alpenvereinsjahrbuches. Einen ersten Blick ins Buch könnt Ihr bei book2look.de werfen. Dort findert Ihr nicht nur das komplette Inhaltsverzeichnis sondern auch einige Fotos und Artikel im Originallayout des Buches.
Und wie in jedem Jahr kann ich Euch das Jahrbuch der Alpenvereine wieder ans Herz legen. Zum ver- und selber schenken. Zum Preis von nur 20,90 Euro gibt es so viel geballtes Bergwissen wohl kaum sonst irgendwo.
Für Alpenvereinsmitglieder gibt es diesmal als Beigabe einen Nachdruck der historische Alpenvereinskarte „Zillertaler Alpen West“ von 1930.
Alpenvereinsjahrbuch Berg 2022
Herausgeber: Deutscher Alpenverein, Österreichischer Alpenverein, Alpenverein Südtirol
256 Seiten
Tyrolia-Verlag
ISBN: 978-3-7022-3977-0
20,90 €
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