Alles was du siehst gehört dir
Die weiten, hügeligen Felder nach den letzten Häusern, sie sammeln den Regen und den Schnee, damit der Hennigbach aus seinem Bett auf die Straße treten kann, wenn es für ihn an der Zeit ist. Über dem Schnee liegt an guten Wintertagen ein goldgelber Schein der gerade aufgehenden Sonne. Dann sind sie zu sehen, die Alpen. Vom Hochfelln über den Felskamm der Kampenwand bis zu den vielen Spitzen des Kaisergebirges. Scharf und dunkel heben sie sich vom Himmel ab. Bis der Wald sie verdeckt und dutzende, hunderte Rehe vor dem Fenster vorbeifliegen.
Nein, die Rehe fliegen nicht, sie stehen da und äsen ihr immergleiches Frühstück, suchen sich im Winter Stellen, die schon von der Sonne gewärmt sind, im Sommer solche, die kühlenden Schatten versprechen.
Die Rehe stören sich nicht am vorbeirasenden Zug, der graugesichtige Pendler aus dem Osten in die Millionenstadt trägt. Wir sind es, die vorbeifliegen. Der Zug ist große Reisefreiheit, die S-Bahn ist langsam, hält unentwegt, da fliegt nichts. Doppelstock, oben ist die Aussicht besser, falls man sich für die Aussicht interessiert.
Der Ort, der aussehen will wie eine Stadt es aber nicht recht schafft, hat sich schon an den Wildpark mit den Rehen herangebaut. Der Bahnhof, unendliche Baustelle und Einkaufszentrum, dann links die langgezogene, weiße Halle, rechts das dritthässlichste Gewerbegebiet östlich von München.
Ein Feld, mittlerweile kleiner geworden, damit die große, graugefleckte Halle Platz hat. Und noch ein großer, grauer Anbau an die große, graue Halle. Die Geschäfte gehen gut. Es parken viele Autos vor der jetzt sehr großen, grauen Halle am kleinen Bahnhof.
Fenster zum Berg
Nur noch die Unterführung, dann öffnet sich der Blick über die zwei großen Felder. Nur Felder und ganz hinten das Möbelhaus, das sich aber geschickt in die Landschaft geduckt hat, liegen noch zwischen mir und den Alpen. Zumindest sieht es durch die Fenster des Zuges so aus.
Grüß Euch Wendelstein und Brecherspitz, servus Wallberg und Hirschberg. Ein Kopfdrehen nach hinten zeigt noch einmal die vielen Zacken des Kaisergebirges, weit vorne steht die Zugspitze als würdiger Abschluss der Alpenkette.
Im Sommer rufen die Berge, locken sirenengleich: „Komm her, Wanderer, steig auf! Das Wetter ist zu gut heute, das Gipfelkreuz ruft, ein Weißbier auf der Alm! Ins Büro kannst Du morgen auch noch.“ Ist je eines der grauen Gesichter spontan diesem Ruf gefolgt?
Im Winter, wenn die Sonne gerade rot und gelb und golden irgendwo hinter Mühldorf und Berchtesgaden aufgeht und nur halb zu sehen ist, zeichnen sich die Berge scharf und schwarz wie ein Scherenschnitt vom roten und gelben und goldenen Himmel ab. Oberhalb des leuchtenden Himmelsstreifens hängt an manchen Tagen eine bedrohliche, dunkle Wolkenfront, die den Bergblick nur noch intensiver macht.
An anderen Tagen, an denen der Föhn die warme Luft Italiens nach Oberbayern bläst, stehen die Berge so groß da, so nah, so scharf, dass Du glaubst, einen einzelnen Skifahrer auf den weißen Pisten erkennen zu können.
Doch wenn das Wetter will, dann sind die Berge fort. Verstecken sich hinter einem grauen Vorhang aus Regen oder Schnee oder den Morgennebeln, die hier im Herbst in der Münchner Schotterebene auch gerne mal bis zum Abend bleiben.
Ein kurzer Blick nur, wenige Sekunden Nahweh am Morgen, Erinnerungen an vergangene Touren, Vorfreude auf neue oder die simple Freude am Bergblick. Schon sind die zwei Felder vorbei, verstellen die Lagerhallen des zweithässlichsten Gewerbegebiets östlich von München den Blick. Vielleicht ist es auch das allerhässlichste, die Geschmäcker sind verschieden.
Die Summe der einzelnen Teile
So war es zwanzig Jahre lang für mich und noch viel länger. Eine tägliche kleine Dosis Berg. Und so wird es nicht mehr sein. Nun verschwinden die Berge hinter einem neuen grauen Vorhang. Auf dem Acker, über den hinweg ich zwanzig Jahre lang auf die Alpen geblickt habe, werden sich auf siebenundsechzig Hektar Fläche ein Maschinenbauer und ein Münchner Autobauer einrichten.
Die eine Firma heißt so wie eine andere Firma, die Panzer baut, sie baut aber keine Panzer. Die andere baut Autos, die immer mehr Größe und Gewicht und Aussehen eines Panzers annehmen, um in den alltäglichen Kampf der Pendler auf der nahen A99 und in der Münchner Innenstadt zu ziehen.
Denken Sie groß
Siebenundsechzig Hektar Fläche werden verbraucht, versiegelt, betoniert und bebaut. Bei aktuell elfkommasieben Hektar Flächenverbrauch in Bayern pro Tag ist das die Fläche von weniger als sechs Tagen. So viel Bayern und noch etwas mehr verschwindet also jede Woche unter Beton und Asphalt. Erschreckend, wenn einem das so plastisch vor Augen geführt wird.
Dreiundvierzig Quadratkilometer im Jahr. Jedes Jahr. Nur in Bayern, wir sind Deutscher Meister im Flächenverbrauch. Langfristig soll sich der Verbrauch auf fünf Hektar am Tag halbieren. Aber was soll man machen, die Geschäfte gehen gerade zu gut, da kann man keine Rücksicht nehmen. Wir bauen ja auch Ausgleichsflächen. Auch wenn ich nicht sicher bin, dass zum Ausgleich irgendwo gerade siebenundsechzig Hektar Bayern entsiegelt werden.
Autobahn
Eine Lücke gibt es noch für den Bergblick, sie wird mir bleiben. Zwischen den sehr hässlichen Gewerbegebieten liegt der Graben, darin die Autobahn. Graues Band, weiße Streifen, grüner Rand. Darüber der Zug, einen Augenblick lang nur, aber da hinten stehen die Berge. Panorama mag man es nicht nennen, dafür ist der Blick nicht weit genug. Aber diese Lücke auf der Brücke über die A99, sie wird bleiben für einen sekundenkurzen Bergblick.
Unter den Bergen die weißen Scheinwerfer der Autos, wie sie dort, aus Süden kommend, in Richtung Norden stehen. Vor zwanzig Jahren standen sie dreispurig, bis zum Ausbau. Dann durften sie vierspurig stehen, auch auf dem Standstreifen, damit der seinem Namen gerecht werde.
Freiheit
Nach Norden zeigen sie ihre roten Bremslichter. Hier ist immer Stau, an jedem Werktag, seit zwanzig Jahren. Jetzt wird wieder ausgebaut. Ab dem Ostkreuz dürfen sie schon regulär vierspurig stehen, mit Standstreifen fünfspurig.
Wenn die Autobahn wieder ausgebaut wird, damit sie sechs- und siebenspurig stehen können, bin ich hoffentlich so alt, dass ich es nicht mehr jeden Tag sehen muss.
Nach Süden stehen sie nur am Samstag und Sonntag. Bei schönem Wetter. Manchmal mache ich da mit, man kann sich ja nicht immer dem Gemeinschaftsgefühl verschließen.
Und wenn die Ferien beginnen, irgendwo zwischen München, Mannheim oder Malmö, dann stehen sie alle auf dem Weg nach Süden und sehen sich das Alpenpanorama an. Das Panorama ist wirklich schön von der A99 zwischen Haar und Putzbrunn, aber noch schöner wird es ab Holzkirchen und am schönsten ist es hinter dem Irschenberg. Ich schweife ab.
Pure Vernunft darf niemals siegen
Zwei Felder sind es noch, die frei geblieben sind zwischen Poing und Heimstetten. Und eines zwischen Feldkirchen und Riem, die es noch zu bebauen gilt. Dann ist die gesamte Strecke zwischen Freiham tief im Westen und Poing ein großer Siedlungsbrei aus Millionenstadt und Speckgürtel.
Der nach Osten hin ausfranst in die Ansammlung aus dem, was von von den ehemaligen Bauerndörfen übrig geblieben ist. Und Bürogebäuden und den immergleichen, rechteckigen Blechschachteln der Logistiklager, Möbelhäuser und Baumärkte. Dazwischen das Tanklager, die Kiesgruben und der Containerbahnhof, der seine eigene Stadt aus rechteckigen gestapelten Blechschachteln ist. Viele tausend, jede zehntausendmal kleiner als die neuen Hallen, die sich jetzt groß und grau zwischen die Berge und mich gestellt haben.
Aber gut, dass der scheidende Bürgermeister der Gemeinde Vaterstetten, zu der das kleine Dorf Parsdorf mit seinen großen Gewerbegebeiten zum Abschied mahnt: „Unser Auftrag muss lauten: Bauen und bewahren mit Augenmaß und Vernunft. Gönnen wir unseren Kindern und Enkeln bitte noch den Hauch einer Gartenstadt und eine freie Sicht über steinige Äcker und das Erlebnis unserer waldreichen Gegend.“
Für immer und dich
Und beim Abschied haben die Berge nicht mal leise Servus gesagt. Sie bleiben völlig unbeeindruckt von dem, was in der Schotterebene zu ihren Füßen passiert. Ich sag leise Servus und nehme Abschied von meinem allmorgendlichen Alpenpanorama.
Nur die Autobahn, ausgerechnet sie. Sie wird mir einen kurzen Blick auf die Berge erhalten.
Links
Bayerisches Staatsministerium für Umwelt und Verbraucherschutz: Daten und Fakten zum Flächenverbrauch
Bayerisches Staatsministerium für Wirtschaft, Landesentwicklung und Energie: Flächennutzung – Flächenverbrauch
Bayerisches Landesamt für Umwelt: Flächenverbrauch
Deutschlandfunk Kultur: Flächenversiegelung in Bayern – Obergrenzen gegen Flächenfraß
Merkur Online: Reitsbergers Mahnung zum Abschied: Baut nicht alles zu
VGP Park München
Twitter: Bayerns Schattenseite Fotoprojekt / Photography Robert Schlaug